Der Mann an der Mauer

Zerfressen - Mauerwerk
Zerfressen - Mauerwerk

Ich war schon immer angetan von jenen, die aus dem Schatten springen. Man glaubte längst nicht mehr daran und plötzlich stand er da, als wäre er schon immer da gewesen, und verdreckt mit seinem aus der Rolle fallendem Antlitz die Schattenspender, die selbst eigentlich doch nur Blender sind. Vielleicht. Vielleicht muss man manchmal blinzeln um besser zu sehen.

Ein tiefer Schmerz durchzieht vom Kopf meinen Körper. Es ist der Wecker am Kopfende, der mir unnachgiebig die Strafe für eine viel zu lange Nacht am Computer in den Körper hämmert. Es ist ein altes schwarzes Ding, was mir unverständlicherweise zum Geburtstag von einem böswilligen Halunken anheim gelegt wurde. MIEP MIEP MIEP. Es ist abscheulich, diese Welt ist voller Zwänge. Zu welch hoher Leistung wäre man fähig, könnte man frei aufspielen. Das kennt man doch schon aus dem Fußball: «Zuerst hatten wir ganz schön die Hosen voll, aber nach hinten raus lief’s später ganz flüssig!» Doch keine Chance, ich habe bereits zwei Jahre verloren und stehe mit dem Rücken zur Wand. Eigentlich stehe ich ohnehin immer mit dem Rücken zur Wand. Das liegt an der Eigenart, alles, nicht ohne Liebe, bis zur Schmerzgrenze auskosten zu müssen. Aus Panik vor dem Müßiggang raubt man sich dann aber die Kreativität, die sich aus der Freiheit erhebt, um in inneren und äußeren Zwängen wenigstens im Mittelmaß zu strampeln. Das ist ohnehin unsere Kultur. Der Kompromiss und die Meinung der Anderen ermutigt einen zum Tiefflug. Beflügelt erhebt man sich bis über die Grasnarbe.

Und deshalb muss ich jetzt auch schnell raus aus den Federn. Der Morgen ist straff durchgeplant, denn keine Sekunde Schlaf galt es zuvor zu verschenken. Die Schule fängt bestimmt nicht ohne mich an, und ich bin der letzte, der sie warten lassen möchte. Erstmal aufstehen. Noch bevor ich mein Zimmer verlassen habe, setze ich mich natürlich erst mal an den Rechner, der ebenfalls in einen tiefen Schlaf verfallen ist. Das leise Surren der Lüfter, die noch einen warmen Föhn erzeugen und ins Zimmer blasen, zeugt aber von Leben, und mit einem behutsamen Druck auf die CTRL Taste wecke ich ihn wieder zärtlich auf. Ich habe mir angewöhnt genau diese Taste zu drücken, da sie am ungefährlichsten den Rechner zu wecken vermag. Noch schlaftrunken bin ich kaum im Stande mich zu erinnern, was ich am letzten Abend genau gemacht habe. Hinterher ist noch irgendeine Verbindung oder sonstwas offen, oder ich bestätige irgendeine Dialogbox, ohne sie gelesen zu haben; meine größte Sorge. Mit einem Klacken des Relais, welches an den Augenaufschlag der Maus im Fernsehen erinnert, startet auch mein Monitor mit Hochspannung wieder durch und heißt den Tag willkommen. Das Bild vibriert kurz und liegt nun in einer Helligkeit und Schärfe vor mir, dass ich meine noch im Traum verhangenen Augen abwenden muss, und mir nur ein kleines Blinzeln, vom Monitor abgewandt, zutraue. Ah ja, hier bin ich stehen geblieben. Der Desktop Hintergrund ziert ein Jolly Roger und in die rechte untere Ecke presst sich eine 80×25 große Shell. Erstmal zur Morgentoilette.

Wieder in meinem Zimmer angekommen versinke ich noch eine Weile im Bildschirm, bis wirklich überhaupt keine Zeit mehr im Haben ist. Ich bin mal wieder im Soll angekommen. Hastig suche ich meine Schultasche, schmeiße alle nach Schule aussehenden Utensilien dort hinein, die gerade griffbereit im Umkreis irgendwo um mich herum rumliegen und mache mich auf den Weg, immer mit der tiefen Gewissheit irgendwas vergessen oder ignoriert zu haben, aber auch immer mit dem Wissen im Hinterkopf, dass mit einer Portion Phantasie und Sprachgewandtheit als Sollzustand glaubwürdig zu verkaufen – im eigenen Anspruch. Wer 3 Stufen gleichzeitig macht, ist dreimal so schnell unten. Türe auf, 180° Kurve und los gehts. Aus 2×13 Stufen werden 9, den Treppenwechsel schaffe ich mit 2 Schritten. Ab in den Dschungel.

„Regenwald“ wäre die präzisere Bezeichnung. Es pisst mal wieder in Remscheid. Das wird kein Spass. Selbstverschuldet habe ich einige Jahre kostenloser Monatskarte für den Bus gegen fußläufige Schulen eingetauscht – eintauschen müssen. Da muss ich jetzt durch. Es ist 6:55Uhr, rabenschwarze Nacht, und ich habe mal wieder meine Hausaufgaben nicht gemacht. Die Schule lag exakt 20min Fußweg von zu Hause entfernt. Es durfte also nichts schief gehen! Zeit für die drei Laternen vom Haus zum Wirtschaftsweg blieb aber noch. Irgendwann war man heranwachsend genug, um sie mit einem konzentrierten Schlag gegen den Relaiskasten zu löschen. Noch wenige Jahre zuvor bedarf es vollsten Körpereinsatzes und man sprang wie ein Irrer dagegen, bis Frau Komischki sich mit ihren Hängetitten über die Fensterbank des ersten Stocks erhob um mit erhobenen Zeigefinger hastig mit Polizei zu drohen. Jetzt klappt es im Vorbeigehen bevor die gute Frau überhaupt ihre Cord Slipper gefunden hat. Wir werden alle nicht jünger, nur besser. Also im Vorbeigang dreimal mit der rechten Faust gegen die jeweils neben einem auftauchenden Laternen gehauen und ein flüchtiger Blick des zum Schutz vor dem Regen gesenkten Haupts die nun unbeleuchtete Straße hinab, als ich auf den Wirtschaftsweg einbog.

Auf dem Weg zur Schule kam ich dann wenig später an einer dieser großen Werbewände vorbei, an denen Unternehmen mit ihren Produkten dem interessierten Leser den Platz an der Sonne versprechen. Es war eine Doppel-Werbewand. Zwei Sonnenplätze. Vor der Werbewand war eine kleine, etwas mehr als hüfthohe Mauer aus Backsteinen, von der langsam aber unaufhörlich der von den Abgasen des vorbeibrausenden Berufsverkehrs dunkel gefärbten Putz des Nachkriegsdeutschlands erodierte. Der ständige Regen wäscht alles aus. Vor dieser Mauer stand bereits mein ganzes Leben eine Person, nennen wir sie Ewald, um sich von den Werbetafeln bescheinen zu lassen, und am Berufsleben teilhaben zu können. Früher, da ging ich da noch nicht vorbei, sondern wechselte stets zuvor die Seite. Man wusste ja nie, was sich hinter den finsteren Gestalten verbirgt, aber irgendwann begegnet man sich halt auf Augenhöhe, rein geometrisch gesprochen. Ewald hielt immer eine braune Flasche in der Hand, die ohne jeden Zweifel mit Alkohol billigster Sorte gefüllt war, eher halb leer als halb voll. Es war noch eine dieser alten Flaschen, die nur einen kurzen Hals haben. Braunglas. Man konnte sie kaufen im nah gelegenen Discounter, den man damals noch schlicht SB-Markt nannte. Ewald umklammerte stets die Flasche auf dem Mauersims mit seinen ausgezehrten Fingern, als würde sie sofort das Weite suchen, würde er nur einen Moment unaufmerksam sein und den Druck lösen. Vielleicht musste sich Ewald auch an der Flasche festhalten, um nicht umzufallen. Aufrecht stand er nicht immer vor der Wand. Manchmal aber auch, an seinen guten Tagen, da stand seine Flasche nur lässig auf der Mauer. Nur er, er stand immer vor der Mauer, ob es Bindfäden regnete, oder ob es eine Uhrzeit wider der Menschenwürde war. Das war Disziplin. Immer zur gleichen Zeit, immer die selbe Stelle. Regeln ob der Regel willen befolgen. Nach einem Sinn fragt man nicht. Mit der Muttermilch aufgesogene Spätfolgen preußischer Kriegstreiberei. Befehl ist Befehl, auch und gerade im Grenzpuffer zwischen dem Rheinland und Westfahlen, von dessen Menschen man sich manches mal nicht des Eindrucks erwehren konnte, sie hätten minutiös die schlechten Eigenschaften beider Kulturen zum Status Quo erhoben. Und gesoffen wird ohnehin überall.

Auf der anderen Seite der Mauer ging es ein paar Meter bergab. Mit wachsendem Körper konnte ich das irgendwann überblicken, die Natur meinte es gut mit mir und schenkte mir die Fähigkeit des Überblicks, geometrisch gesprochen. Die andere Seite war gefüllt mit Kronkorken, Bierflaschen, Dosen, und ein kleines Sammelsurium an Tüten, ein kleiner Holzverschlag und eine besudelte Matratze sowie ein Schlafsack. Der hats gut, der kann immer ausschlafen. Und doch, so früh am Morgen ich auch dort vorbeikam – er hat seine Wache ja schon aufgenommen. Niemanden im Berufsverkehr hat er wohl je verpasst. Möglicherweise kann  er ja auch gar nicht mehr schlafen, oder er schläft nur am Wochenende oder am Ende des Monats, wenn noch etwas Zeit übrig blieb.

Jetzt ist es passiert! Zwar wusste ich wie ich bereits geschrieben schon immer von seiner Existenz, doch ist er mir an diesem Morgen erstmals wirklich bewusst aufgefallen. Es ist wie ein Denkmal, an dem man schon hundertmal hastig vorbeieilte, und einmal plötzlich stehen bleibt und liest, was auf der Grünspan Tafel steht. Dann war es aber schon so verwittert, dass man nur unter Anstrengung den Sinn lesen konnte. Die Zeit war Ewald auch nicht gerade gefällig. Auf meinem weiteren Weg zur Schule schaltete ich aus unerfindlichen Gründen, wohl in Gedanken vertieft, einen Gang zurück, womit ich mir die ganze Pace kaputt gemacht habe. Die 20min waren nicht mehr zu halten, ich war zu spät! Allerdings schwirrten mir gerade sowieso wichtigere Dinge im Kopf herum als der blöde Deutsch-Aufsatz, den ich erstens nicht gemacht habe, und der zweitens beim Packen meiner Tasche ohnehin nicht in Reichweite gelegen hätte. Drittens hielte ich die Ausarbeitung sowieso für schwer überflüssig, aber was hatte ich schon zu melden? Erst die Zeit sollte mir recht geben, aber dies ist nie als aktuelles Argument ein schnelles Rennpferd und das Risiko des Fehlschlusses schwingt eben doch immer mit. Auch dafür hat die Zeit genug Beweise geliefert. Aber immerhin habe ich jetzt meine Elektrotechnik Unterlagen dabei! Gut, heute gibt’s kein E-Technik, aber wer wird hier kleinlich werden? Die Hausaufgaben habe ich nämlich auch schon gemacht, die machen ja auch Spaß!

Der Schultag plätschert vor sich hin, wie das Wasser vor dem Gebäude – Dachrinne undicht, verrostet und zerfressen wie die ganze Lehranstalt, die ganze Stadt. Vorwürfe über mangelnde Leistung, psychologische Trickkiste der Lehrer, kiffende Schulkameraden in der ersten und zweiten großen Pause und eine quälende letzte Stunde, die stets nie vorbei gehen wollte. Beste Voraussetzung, glänzende Perspektiven. Lahme Laberbacken hinterm Lehrerpult in Buche-Lack-Furnier kurz vor Glockenschlag sind unerträglich, gehörten aber fest zum Inventar. Zeit ist relativ. Nicht die besten werden Lehrer, sondern die, die übrig geblieben sind.  Schule ist relativ bescheiden und kostet viel Zeit. Zeitraub für Dinge, die ich schon x-mal gemacht habe. Wie frei war da hingegen doch Ewald. Aber zu welchem Preis? Gibt es immer nur die Wahl zwischen zwei Extremen; liegen Positionen immer diametral zueinander? Es muss doch noch etwas dazwischen geben. Abendrealschule vielleicht. Nee, ist auch scheiße. Also weiter, das formt den Charakter.

Irgendwann war der Tag aber auch geschafft, und ich habe den Heimweg beschritten. Pünktlich zur letzten Stunde begann es auch wieder kräftig zu regnen. Klar, ich hatte ja auch keine Monatskarte mehr und wieder 20min Fußweg vor mir. Über den Schulhof ströhmte der Nachwuchs aus der Berufsformungseinrichtung mit der Fünf in der Tasche in alle Himmelsrichtungen dem warmen Heim entgegen. Vier Wände, mit Pappe die  Wand verziert. Mutti wartet mit Essen auf dem Pressspan Tisch mit Wachsdecke, Vati prügelt in vollgepisster Hose zuvor den Bengel gegen die braune Eiche-Schrankwand im Satelliten Vorstadtbunker. Pampige Soße auf dem Teller, gekauft im Supermarkt und aufgewärmt in der Mikro. Mutter hatte wenig Zeit zwischen Sozialamt und Zigaretten kaufen. Aber mich schief anschauen, weil es mir ziemlich Wumpe war, dass sie die neuesten Air Jordan Schuhe besaßen. Das Spiel läuft heute noch so. Blender und Brunnenvergifter prägen die Öffentlichkeit, die Meinung, die Wahrheit, die Sachlage. Das einzige was da läuft ist die Zeit. Ich konnte sie jeden Tag sehen, die sozialen Kräfte von heute. Wäre mein Schuhwerk alles an das ich mich halten könnte, hätte ich wohl auch angefangen zu kiffen. Vielleicht hätte Aufmerksamkeit geholfen – nein, Mitleid tötet. Halte auch die andere Backe ist. Arschloch.

Mitleid konnte man auch mit Ewald bekommen. Gerüchten zufolge war er ein ganz heller Kopf. Arzt war er mal, und irgendwann hat er den ganzen Mist einfach gelassen, nur um frei zu sein. Er war kein Mensch armer Eltern, kam nicht aus der unteren Bildungsschicht, durfte studieren. Menschen wollte er helfen, aber er ist ausgestiegen, bevor er selbst am System kaputt geht.Böses System, überhebliche Moral, wenn sonst nichts mehr bleibt.  Eine super Geschichte, nur war sie leider nicht wahr. Romantik ist fehl am Platz: Straße ist Krieg. Er hat einfach verkackt, ob willentlich oder nicht. Auch gute Menschen fangen an zu treten, fühlen sie keinen Boden unter den Füßen. Er ist nicht ausgestiegen bevor ihn das System kaputt macht, dass System hat ihn kaputt gemacht, dass er aussteigen musste. In eine Nische, in der er Zuschauer ist des großen Ganzen, an dessen Teilhabe er heute nicht mehr interessiert sein will, weil er nicht aktiv sein kann. Wen interessieren die Gründe wirklich? Schade um ihn. Knoppers spenden und ein mitleidiger Blick. Das war zu viel. Er hat sich dann irgendwann vor den Zug geworfen und nochmal für mächtig Ärger gesorgt, weil die ganze Taktung der Züge im Berufsverkehr aus den Angeln geriet. Es gibt kein Recht auf Aufmerksamkeit, auch nicht für ihn, auch nicht für helle Köpfe. Vielleicht gerade nicht für sie. Deshalb fallen Züge auch nicht mehr aufgrund eines „Personenschadens“ aus, sondern aus fadenscheinigen Alibigründen. Seinen letzten Auftritt haben nur noch die mitbekommen, die ihn vom Zug gekärchert haben. Aber er hat seine Visitenkarte vergessen.

Der Ort jedoch, an dem Ewald vor der Mauer immer auf das System schaute, an dem er sich stumm mahnend der Gesellschaft äußerte, der riecht heute noch nach ihm, nach saurem Atem, nach seiner alten Matratze, den Alkoholresten. Vielleicht bilde ich mir das aber auch einfach nur ein. Niemand wirbt mehr dort, die Mauer ist auch weg. Zwei schicke neue Häuser stehen dort. Wo er immer die Flasche umschlang, steht heute ein kleiner Brunnen im Vorgarten, umrandet mit weißen Steinen, die der 400€ Gärtner aus Polen in dankbarer Demütigkeit fachmännisch geharkt hat. Kinder spielen im Vorgarten und rammen das Bobby Car manisch vor den Bordstein. Wir sind so viel klüger geworden.

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